Herr Steinkühler, haben Sie eine Idee, wie Gewerkschaften erfolgreicher als bisher Solidarität organisieren können? Das Argument überzeugt doch: Wir schließen uns in Gewerkschaften zusammen, um viel leichter beispielsweise höhere Löhne durchzusetzen. Jedoch: Die Zahl der Beschäftigten ist mit mehr als 42 Millionen auf einem Höchststand. Die im DGB vereinten Gewerkschaften haben sechs Millionen Mitglieder, Tendenz sinkend, ein Fünftel im Rentnerstatus.
Franz Steinkühler: Solidarität hat mit Quantität nichts zu tun. Auch Gewerkschaften mit wenigen Mitgliedern sind solidarische Organisationen. Solidarität ist ein Wert an sich. Und deshalb steckt in Ihrer Frage ein Denkfehler. Sie sagen, ich gehe in eine Gewerkschaft, weil mehr rüberkommt. Ich denke, für zehn Cent mehr Lohn geht niemand in eine Gewerkschaft. Solidarität ist eine Frage der Haltung.
Was ist ausschlaggebend für Solidarität, wenn nicht gemeinsame materielle Interessen?
Solidarität ist Verbundensein mit anderen in ähnlicher Lage und mit ähnlichen Interessen. Deshalb kann Solidarität nur in der Nähe entstehen. Man muss die anderen und deren Probleme kennen. So ist die heutige Produktionsweise kein Nährboden für Solidarität, im Gegenteil. Denn sie verhindert Nähe. Arbeit und Produktion sind zerstückelt. Wenn wir beide am Fließband sitzen würden, im 10-Sekunden-Takt irgendetwas tun, dann könnten wir nicht miteinander reden. Und mit dem Produkt, das wir mit anderen letztlich herstellen, hätten wir auch nie etwas zu tun. Diese Erfahrung, an etwas Gemeinsamen zu arbeiten, die gäbe es also auch nicht.
Dann verkümmert dieses Empfinden.
Meine Erfahrung ist: Solidarität war immer da, auch urplötzlich, wenn viele Leute erkannt haben, das ist unser Interesse, diese konkrete Forderung eint uns. Aber Sie haben schon recht: Sie kann verkümmern. Das heißt, man muss ständig etwas tun, um für Solidarität zu werben. Dazu gehört meines Erachtens der Hinweis, Solidarität ist ein gesellschaftliches Ereignis. Da gibt es einen Satz von Papst Franziskus: »Hüten und Mehren des Privatbesitzes ist nur dadurch gerechtfertigt, dass es dem Gemeinwohl besser dient.« Ein wunderschöner Satz, den ich gerne öfter hören würde. Dieser Satz drückt aus, worum es im Kern geht: Menschen müssen ihre Abhängigkeit erkennen. Und aus dieser Erkenntnis gemeinsam handeln. Aber das muss man ihnen auch immer wieder sagen, sie auch in diesem Sinne fordern. Und unsere Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, der wir uns nicht entziehen können, ist ja nicht gerade solidaritätsfördernd, sondern ichzentriert, egoistisch. Sie macht letztlich jeden zu jedermanns Wolf. So gesehen ist das, was Gewerkschaften leisten, nicht hoch genug einzuschätzen.
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