Kapitalismus führt zu Kannibalismus: Um den Bildungshunger von Benutzern öffentlicher Bibliotheken zu stillen, werden Hartz-IV-Bezieher ausgesaugt.

12. April 2013  Meldungen

Foto: Stefan Dreher

Glosse von Stefan Dreher

Den Zugang zu öffentlichen Bibliotheken verteidigen wir. Und wir verteidigen dort das bestmögliche Sortiment. Und: Wir wollen nicht, dass sogenannte Ein-Euro-Jobber regulär Beschäftigten die Arbeit wegnehmen (müssen).

So.

Nun scheinen wir die Wahl zu haben:

Wenn wir das gute Sortiment in der Leonberger Bibliothek behalten wollen, dann müssen wir akzeptieren, dass Ein-Euro-Jobber die Bücher zum Hungerlohn einbinden. Ansonsten kostet ein Buch zwei Euro mehr, was bedeutet, dass das Sortiment eingeschränkt wird, weil die Leonberger Bibliothek nicht so viel Geld hat, um sich das leisten zu können. Wenn wir aber wollen, dass regulär Beschäftigte bei den Lieferanten einen sicheren Job haben, dann bedeutet das, dass wir dafür sein müssen, dass das Leonberger Büchersortiment der Bücherei reduziert wird.

Ja was jetzt?

Die Lösung ist: Das Hartz-IV-System mit den Ein-Euro-Jobbern und die Armut öffentlicher Kassen sind herbeiregiert. Da besteht dringender Handlungsbedarf! Wer die neoliberale Logik dieser Tatbestände akzeptiert, der akzeptiert, dass arglose Menschen zu Kannibalen werden und andere arglose Menschen zu Sklaven. Uns wird unterstellt, wir wollten, um diese Tatbestände zu ändern, den Kapitalismus überwinden.

Wenn Christen und Sozialdemokraten nicht vom Kapitalismus ablassen wollen, dann wäre jetzt der Zeitpunkt, sich was einfallen zu lassen. Oder glaubt jemand ernsthaft an diesen Quatsch da: „Für die vom Amt vermittelten Langzeitarbeitslosen ist das eine Chance, wieder ins Berufsleben zurück zu finden.“

hier der Artikel:

LEONBERGER KREISZEITUNG vom 12. April 2013:

Ein-Euro-Jobber dürfen weiter in Bücherei arbeiten

Leonberg Die Arbeitsagentur bietet dafür Sonderkonditionen an. Sven Hahn

Die Aufregung ist groß im März 2012. Im Jahresbericht der Stadtbücherei deuten sich harte Zeiten für die Nutzer an. ‚Wir werden künftig deutlich weniger neue Titel anschaffen können als in der Vergangenheit‘, sagt Ingrid Züffle, die Leiterin der Bibliothek, damals. Die Leonberger Leser sind empört. Da Bücher in einer Bibliothek durch unzählige Hände wandern, müssen sie gut geschützt werden. Die Bände werden in einen Schutzeinband eingeschlagen – folieren nennt sich das im Fachjargon. Die Arbeit wird in der Stadtbücherei seit vielen Jahren von Ein-Euro-Jobbern übernommen.

Für die vom Amt vermittelten Langzeitarbeitslosen ist das eine Chance, wieder ins Berufsleben zurück zu finden. Und für die Bibliothek die einzige Möglichkeit die aufwendige Arbeit kostengünstig verrichten zu lassen. ‚Wenn wir die Bücher eingebunden kaufen müssen, kostet das pro Titel zwei Euro mehr‘, sagte Züffle vor einem Jahr. Bei rund 4000 Neuanschaffungen jährlich kommt durch den Aufpreis eine beträchtliche Summe zusammen. Eigentlich hätte der letzte Ein-Euro-Jobber die Bücherei Ende März 2012 verlassen müssen. Grund: die Sozialgesetze wurden verändert. Für den Einsatz der Langzeitarbeitslosen wurde von der Arbeitsagentur bis April des Vorjahres eine sogenannte Betreuungspauschale bezahlt. Mit Hilfe des Geldes sollten die Menschen sozialpädagogisch betreut werden.

Nach dem anschließenden Artikel zur drohenden Einschränkung des Angebots der Bücherei in dieser Zeitung war die Aufregung groß. Leserbriefe, Anrufe und E-Mails erreichten die Redaktion. Der Tenor: die Stadt müsse die Ein-Euro-Jobber weiter in der Bibliothek beschäftigen.

Das hat sie wohl auch getan – aller öffentlicher Aufregung zum Trotz jedoch, ohne groß davon zu berichten. Am Mittwochabend im Höfinger Ortschaftsrat wurde der Jahresbericht der Bücherei zum ersten Mal öffentlich vorgestellt. Gabl-Rat Thomas Schütz stellt die entscheidende Frage: ‚Frau Züffle, wie haben Sie den Wegfall der Ein-Euro-Jobber kompensiert? Wie groß sind die Einbußen bei den Neuanschaffungen ausgefallen?‘ Die Antwort überrascht die Räte: ‚Die Leute arbeiten noch für uns und binden Bücher ein‘, sagt die Leiterin der Bücherei, ‚wir haben das Problem gelöst. Die befürchtete Kostensteigerung ist ausgeblieben.‘ Offenbar hat die Bibliothek eine Abmachung mit der Arbeitsagentur in Böblingen getroffen. ‚Dort haben wir Sonderkonditionen bekommen‘, berichtet Züffle. Dafür gab es nach der Neuordnung der Sozialgesetze Gespräche zwischen Stadt und Arge. ‚Die Bücherei war mit der Arbeit der Ein-Euro-Jobber sehr zufrieden‘, erklärt Undine Binder-Farr, die Pressesprecherin der Stadt Leonberg, ‚und auch die Agentur wollte die Plätze erhalten.‘

Im September wurden sich beide Seiten einig: ‚Die Agentur übernimmt seither die Betreuungspauschale. Die Arbeit in der Stadtbibliothek wird wieder wie gewohnt erledigt‘, erklärt die Sprecherin der Stadt. Die Regelung zwischen Bücherei und Arbeitsagentur ist eine Ausnahme und wird so sonst kaum praktiziert.

image_pdfimage_print


Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.