Dr. Axel Troost: Widerstand gegen die Schuldenbremse

21. August 2019  DIE LINKE, Meldungen

12.08.2019:

  • Der rot-rot-grüne Senat einigte sich im Juni auf einen Kompromiss zur Umsetzung der Schuldenbremse in Berlin
  • Vor der Abstimmung im Abgeordentenhaus wächst die Ablehnung des Kompromisses bei ver.di, innerhalb der SPD und bei der Linken
  • Alternative Wirtschaftswissenschaftler fordern Entschärfung des Senatsentwurfes
  • Dokumentiert: „Berliner Schuldenbremse darf nicht zur Investitionsbremse werden!“

Ab dem Jahr 2020 gilt die grundgesetzliche Schuldenbremse nach Artikel 109 Abs. 3 GG auch für die Bundesländer. Dabei kann aber jedes Bundesland kann selber entscheiden, ob und in welchem Maße die Kredite von Landesunternehmen in die Schuldenbremse einbezogen werden oder eben nicht. Berlin hat bisher keine landesgesetzliche Regelung zur grundgesetzlichen Schuldenbremse verabschiedet.

Im Juni einigte sich der rot-rot-grüne Berliner Senat auf einen Kompromiss. Während DIE LINKE vor allem den Verfassungsrang der Schuldenbremse abgelehnt hatte, drängte Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) auf die Einbeziehung der landeseigenen Unternehmen. Nach dem Vorschlag des Senats sollen Ausgaben der Landesunternehmen unter die Schuldenbremse fallen, wenn sie zur Hälfte vom Land getragen werden. Dafür wird die Schuldenbremse nicht in der Landesverfassung verankert. (Schuldenbremse: Senat beschließt Umsetzung in Berliner Landesrecht, Pressemitteilung vom 18.06.2019)

Doch dieser Kompromiss gefällt vielen nicht.

ver.di: „Die Schuldenbremse darf nicht zur Investitionsbremse werden.“

„Wir als ver.di haben große Sorge, dass Berlin eventuell vor neuen finanziellen Engpässen stehen könnte, vielleicht sogar eine neue Sparwelle auf die Stadt zurollt, wenn die Schuldenbremse greift“, sagte Frank Wolf, ver.di-Landesbezirksleiter anlässlich einer großen Diskussionsveranstaltung mit den haushaltspolitischen Sprechern von SPD, Grünen, Linken und CDU am 8. August 2019.

„Die rot-rot-grüne Koalition hat gerade damit begonnen, den Investitionsstau aufzulösen, den die letzte Sparwelle verursacht hat. Aber die drohenden neuen Hemmnisse könnten dafür sorgen, dass es auch weiterhin Probleme beim öffentlichen Dienst, der Infrastruktur oder der Daseinsvorsorge geben könnte“, so der ver.di-Landesbezirksleiter. Die wachsende Stadt brauche dringend einen funktionierenden, leistungsfähigen und modernen öffentlichen Dienst, Finanzbedarf gebe es auch in Bereichen wie Digitalisierung, Bildung und Wohnen. Personal und Infrastruktur entsprächen aber schon lange nicht mehr den Anforderungen, den die  Bürgerinnen und Bürger hätten, so Frank Wolf. „Die Schuldenbremse darf nicht zur Investitionsbremse werden.“

(ver.di Berlin: Ja zu Berlin – Nein zum Kaputtsparen, 09.08.2019)

Cansel Kiziltepe (SPD): „Es wäre richtig, die Extrahaushalte außen vor zu lassen.“

Auch in der SPD rumort es. So hat die Kreuzberger Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe, die schon immer gegen die Schuldenbremse war, die Debatte mit einem Antrag an den SPD-Landesvorstand befeuert. Sie will die Schuldenbremse für die Landesbetriebe lockern und beruft sich auf andere Bundesländer, die mit dem Neuverschuldungsverbot flexibler umgehen und ihre Landesunternehmen außen vor halten. Die Opponenten in der SPD halten es nicht für sinnvoll, dass sich die öffentliche Hand in der Niedrigzinsphase selber Fesseln anlegt und sich daran hindert, Brücken zu sanieren, Schulen zu bauen oder sozialen Wohnungsbau zu subventionieren.

SPD-Fraktionsvize Jörg Stroedter gehört ebenfalls zu den Kritikern der Senatsvariante für die Schuldenbremse. Er hält es für falsch, dass das Land Berlin sich selbst die Daumenschrauben so hart anzieht und dadurch Investitionen in Schulbauten, BVG-Linien oder Messehallen unmöglich gemacht werden könnten.

Wirtschaftswissenschaftler*innen protestieren – und ein prominenter Linker

In einem Aufruf mit dem Titel „Berliner Schuldenbremse darf nicht zur Investitionsbremse werden“ kritisieren prominente linke Ökonomen die geplante Schuldenbremse der Landes Berlin. Neben Dierk Hierschel (ver.di-Bereichsleiter Wirtschaftspolitik), Jan Priewe (Hans­Böckler-Stiftung), Sabine Reiner (ver.di-Ressortkoordinatorin), Thomas Sauer (Hochschule Jena) und Axel Troost (Rosa-Luxemburg-Stiftung) hat auch Harald Wolf unterschrieben. Harald Wolf ist Mitglied des für das Haushalts- und Finanzwesen zuständigen Hauptausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus. Mit der Unterschrift von Wolf könnte der Kompromiss zur Schuldenbremse wieder zur Debatte stehen und der Konflikt zwischen SPD, Grünen und Linken um die Schuldenbremse erneut aufbrechen.

Wirtschaftswisenschaftler*innen: Senatsentwurf untergräbt „strategische Mehrheitsfähigkeit für fortschrittliche Politik“

In dem Aufruf der Wirtschaftswissenschaftler*innen wird gelobt, dass die Schuldenbremse nicht in der Landesverfassung verankert werden soll und daher mit einfacher Mehrheit wieder geändert oder abgeschafft werden kann. „Dies ein richtiges politisches Signal, da sich das Land so perspektivisch Freiheitsgrade sichert, falls die restriktive Schuldenbremse eines Tages aus dem Grundgesetz gestrichen oder zumindest modifiziert wird“, heißt es in dem Text (vollständiger Text weiter unten).

Weiter heißt es: „Es verwundert jedoch sehr, dass der Senat aus freien Stücken die Vorgaben des Grundgesetzes, die nur den Kernhaushalt und rechtlich-unselbstständige Sondervermögen (bspw. ein Pensionsfonds) dem Verschuldungsverbot unterwerfen, dahingehend verschärft, dass auch eine Reihe von rechtlich selbstständigen Beteiligungen (bspw. eine GmbH, Körperschaft oder Anstalt öffentlichen Rechts) des Landes in die Landessschuldenbremse einbezogen werden sollen. Hier werden Handlungsspielräume zur Stärkung der Daseinsvorsorge ohne Not eingeschränkt.“

Durch diese Verschärfung der im Grundgesetz verankerte Regelung, wären unter anderem Investitionen bei den Verkehrsbetrieben, der S-Bahn, den Hochschulen und den Bäderbetrieben gefährdet, heißt es in dem Aufruf. Zudem würde „der Anreiz erhöht, verstärkt in öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP)“ auszuweichen“. Auch „Kreditaufnahmen für Rekommunalisierungen und Entschädigungszahlungen bei Enteignungsverfahren werden deutlich erschwert und verteuert“, kritisieren die Autor*innen.

Der Senatsentwurf werde bei seiner Umsetzung „langfristig zu unzureichenden Investitionen und einem Qualitätsverlust der öffentlichen Daseinsvorsorge führen“, heißt es in dem Papier. Dies untergrabe die „strategische Mehrheitsfähigkeit für fortschrittliche Politik“.

Die Wirtschaftswissenschaftler*innen appellieren an das Abgeordnetenhaus, die Kreditaufnahme von Extrahaushalten nicht in die Landesschuldenbremse einzubeziehen.

Wir appellieren daher an die Fraktionen im Abgeordnetenhaus:

Setzen Sie sich dafür ein, dass die Berliner Schuldenbremse keine Investitionsbremse wird! Beziehen Sie die Kreditaufnahme von Extrahaushalten nicht in die Landesschuldenbremse ein.

Am 15. August steht der Gesetzentwurf zur Berliner Schuldenbremse auf der Tagesordnung im Abgeordnetenhaus und wird dann im Hauptausschuss beraten, der eine Beschlussempfehlung an das Parlament geben wird.

Dokumentiert:

Berliner Schuldenbremse darf nicht zur Investitionsbremse werden!
Dierk Hirschel, Jan Priewe, Sabine Reiner, Thomas Sauer, Axel Troost und Harald Wolf

Die deutsche Schuldenbremse wird ebenso wie die europäischen Schuldenregeln zunehmend in Frage gestellt; von deutschen wie von internationalen Ökonomen. Denn eine Dekade nach Verankerung des Verschuldungsverbots im Grundgesetz werden die Kosten immer offensichtlicher: Während die Logik roter und schwarzer Nullen die Haushaltspolitik bestimmt, verfällt die öffentliche Infrastruktur und nötige Zukunftsinvestitionen werden allenfalls unzureichend getätigt. Das ist schlecht für den sozialen Zusammenhalt und die Chancengerechtigkeit im Land und erst recht schlecht für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Es ist Common Sense, dass wohlüberlegte öffentliche Investitionen insbesondere in Bildung, Digitalisierung, ökologische Modernisierung und eine funktionsfähige Daseinsvorsorge die Chancengleichheit verbessern, Ungleichheit vermindern und zugleich durch die Stärkung der Wachstumspotenziale die Schuldenlastquote stabil halten oder gar senken. Die Bundes- wie die Landespolitik sollten daher vorhandene Handlungsspielräume für zusätzliche Investitionen nutzen und prozyklische Schuldenregeln tunlichst vermeiden.

In keinem anderen Bundesland wurden die öffentlichen Ausgaben, insbesondere für qualifiziertes Personal und für Investitionen, in den zurückliegenden Jahrzehnten so stark reduziert wie in der Bundeshauptstadt Berlin. Bei den Landesbeteiligungen wurden die Investitionen in der Vergangenheit zugunsten von Gewinnen und Ausschüttungen heruntergefahren. Würden die öffentlichen Abschreibungen im Landeshaushalt ausgewiesen, wäre das jahrelange Schrumpfen des Nettoanlagevermögens der Hauptstadt offenkundig. Aber auch ohne diese Daten sind die Folgen der harschen Austeritätspolitik der Nullerjahre im Alltag der Berlinerinnen und Berliner längst erfahrbar. Die Qualität der öffentlichen Güter, Dienstleistungen und Infrastrukturen entspricht seit Jahren nicht mehr den Anforderungen. Hieraus resultiert auch ein Legitimationsproblem für den demokratischen Staat: Ein Staat, der bei der Erfüllung wesentlicher Aufgaben versagt, droht das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger, und ihre Bereitschaft durch progressive Steuern zu seiner Finanzierung beizutragen, zu verlieren.

Anzuerkennen sind allerdings die starken Anstrengungen der Landespolitik der rot-rotgrünen Regierung in den letzten Jahren, die Investitionsausgaben im Kernhaushalt und den Landesunternehmen deutlich anzuheben und zudem Haushaltsüberschüsse teilweise durch Zuführung in eine Rücklage für zukünftige Jahre zu sichern.

Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass dies vor allem durch den Sondereffekt des unerwartet kräftigen und langen Wirtschaftsaufschwungs seit 2010 ermöglicht wurde, der die Steuereinnahmen massiv sprudeln ließ. Hinzu kommen ein anhaltend niedriges Zinsniveau und eine starke Nettozuwanderung, die sich vermittelt über den Länderfinanzausgleich einnahmesteigernd auswirkte. Eine vorausschauende Politik darf jedoch nicht auf der unrealistischen Erwartung basieren, dass der Aufschwung niemals endet. Erste Zeichen einer deutlichen konjunkturellen Abschwächung sind bereits unverkennbar. Es ist daher klar, dass der massive zukünftige investive Ausgabenbedarf Berlins, der durch die Anforderungen der wachsenden Stadt im Bereich von Bildung, Digitalisierung, Integration, Verkehr, Personal und des Wohnungsbaus noch verstärkt wird, absehbar nicht aus den Steuereinnahmen des Kernhaushalts gedeckt werden kann.

Ab dem Jahr 2020 gilt die grundgesetzliche Schuldenbremse nach Artikel 109 Abs. 3 GG auch für die Bundesländer. Durch eine landesrechtliche Ausgestaltung können die Länder drei Modifikationen vornehmen:

Konjunkturelle Schwankungen dürfen berücksichtigt werden, indem im Aufschwung erwirtschaftete Überschüsse mit Defiziten des Abschwungs verrechnet werden. Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Landes entziehen und die Haushaltslage erheblich beeinträchtigen, darf vom Nullverschuldungsgebot abgewichen werden.

Finanzielle Transaktionen (Erwerb und Veräußerung von Beteiligungen oder Aufnahme und Tilgung von Darlehen) können so verrechnet werden, dass sie den Verschuldungsspielraum weder vergrößern noch verkleinern (eine Privatisierung senkt

omit ebenso wenig das erlaubte Defizit wie ein Beteiligungserwerb es erhöht).

Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der Schuldenbremse in Landesrecht (Senatsbeschluss vom 18. Juni 2019) berücksichtigt diese sinnvollen und notwendigen Modifikationen. Dies ist ausdrücklich anzuerkennen. Ob das vom Senat gewählte Konjunkturbereinigungsverfahren (Produktionslückenverfahren des Bundes) die beste Wahl ist, um eine prozyklische Haushaltspolitik zu vermeiden, bedarf einer weitergehenden Begutachtung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens. Ebenso zu begrüßen ist die gewählte einfachgesetzliche Regelung. Die Schuldenbremse wird demnach nicht in der Landesverfassung verankert. Dies ein richtiges politisches Signal, da sich das Land so perspektivisch Freiheitsgrade sichert, falls die restriktive Schuldenbremse eines Tages aus dem Grundgesetz gestrichen oder zumindest modifiziert wird.

Es verwundert jedoch sehr, dass der Senat aus freien Stücken die Vorgaben des Grundgesetzes, die nur den Kernhaushalt und rechtlich-unselbstständige Sondervermögen (bspw. ein Pensionsfonds) dem Verschuldungsverbot unterwerfen, dahingehend verschärft, dass auch eine Reihe von rechtlich selbstständigen Beteiligungen (bspw. eine GmbH, Körperschaft oder Anstalt öffentlichen Rechts) des Landes in die Landessschuldenbremse einbezogen werden sollen. Hier werden Handlungsspielräume zur Stärkung der Daseinsvorsorge ohne Not eingeschränkt. Die große Mehrheit der Länder, darunter Bayern, Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder Brandenburg, hat die rechtlich-selbstständigen Beteiligungen hingegen nicht einbezogen und so die Vorgaben des Grundgesetzes nicht verschärft.

Die rechtlich selbstständigen Beteiligungen des Staates werden finanzstatistisch von den statistischen Ämtern auf Basis des Regelwerks der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen in zwei Gruppen unterteilt. Zum einen in sogenannte „Extrahaushalte“, die zum Sektor Staat gehören und zum anderen in sogenannte „Sonstige Fonds, Einrichtungen und Unternehmen“, die zum Sektor Markt gehören. Im Rahmen der europäischen Schuldenregeln werden alle Beteiligungen einbezogen, die zum Sektor Staat gehören. Letztinstanzlich verantwortlich für diese Zuordnung ist die europäische Statistikbehörde EUROSTAT, die sich hierfür im Wesentlichen am Maßstab der Eigenfinanzierung orientiert. Finanzieren die Unternehmen ihre Aufwendungen zu mehr als 50% durch eigene Erträge am Markt, so werden sie dem Marktsektor zugeordnet (Eigenfinanzierungsgrad größer als 50%).

Die grundgesetzliche Schuldenbremse weicht insofern von den europäischen Regeln ab, da die zum Sektor Staat gehörenden Extrahaushalte nicht automatisch einbezogen werden. Im Unterschied zu den meisten Bundesländern und dem Bund plant Berlin hingegen zukünftig alle Landesbeteiligungen, die von EUROSTAT als Extrahaushalt klassifiziert werden, einzubeziehen.

Der Gesetzentwurf des Senats sieht jedoch noch eine zweite kumulative Bedingung vor. Obwohl bereits von EUROSTAT als Extrahaushalt klassifiziert, müssen die Aufwendungen der Unternehmen zu mehr als 50 Prozent durch Zahlungen aus dem Landeshaushalt gedeckt sein. Der Grund für dieses doppelte Kriterium liegt offenkundig darin, dass der Berliner Senat der Sektorzuordnung durch EUROSTAT misstraut.

Bereits bei der Zuordnung der Fahrzeugfinanzierungsgesellschaft der BVG vertraten Senat und EUROSTAT unterschiedliche Rechtsauffassungen. Es ist unklar, ob die Senatsdefinition über oder unter dem EUROSTAT-Eigenfinanzierungsgrad liegt.

Die großen Unternehmen der Daseinsvorsorge des Landes (BVG, Vivantes, BSR, Wasserbetriebe und Wohnungsbaugesellschaften) sind derzeit keine Extrahaushalte, da sie gegenwärtig alle einen EUROSTAT-Eigenfinanzierungsgrad von über 50 % aufweisen. Dennoch halten wir die Einbeziehung der Extrahaushalte für fatal:

Es besteht das Risiko, dass die Schulden der BVG (aktuell ca. 700 Mio. EUR) und ihrer Fahrzeugfinanzierungstochter (geplant sind Kredite für Investitionen von ca. 3,5 Mrd. EUR) letztlich doch in der Landesschuldenbremse berücksichtigt werden müssen, sofern EUROSTAT die BVG dem Staatssektor zuordnet. Dies könnte geschehen, da EUROSTAT die BVG als Quasi-Monopolist betrachtet und Zweifel am Marktcharakter des Unternehmens geäußert hat. In diesem Fall dürften die Zuschüsse des Landes nach der zweiten Bedingung des Senatsentwurfs keinesfalls mehr als 50 % der Aufwendungen der BVG betragen. Es kommt hinzu, dass die Formulierung im Gesetzentwurf sehr streitanfällig ist, da offenbleibt, auf welcher Datengrundlage und nach welchen Regeln Zuschüsse und Aufwendungen berechnet werden. Daher könnte es sein, dass die 50 %-Grenze schon jetzt gerissen ist. Auf jeden Fall sind so einer vielfach angedachten Vergünstigung der ÖPNV-Tickets („365 Euro-Ticket“), die das Land durch höhere Zuschüsse kompensieren müsste, und einer Erhöhung von Investitionszuschüssen enge Grenzen gesetzt.

Für eine erfolgreiche Digitalisierung der Berliner Verwaltung bedarf es umfangreicher Investitionen des IT-Dienstleistungszentrums (ITDZ).

Eine zukünftige Kreditaufnahme des geplanten S-Bahn-Pools zum Ankauf der neuen Fahrzeuge wird massiv erschwert. Das Volumen beträgt mehrere Milliarden EUR. Es wird der Anreiz erhöht, verstärkt in sogenannte Öffentlich-Private-Partnerschaften (ÖPP) auszuweichen. Diese sind – wie die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder vielfach feststellten – im Regelfall unwirtschaftlicher und teurer als eine klassische Haushaltsfinanzierung.

Es verteuern sich prinzipiell sinnvolle Öffentlich-Öffentliche Partnerschaften (ÖÖP) dadurch, dass öffentlich-rechtliche Finanzierungsgesellschaften in der Rechtsform einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR), die Zins- und Transaktionskosten senken, nicht genutzt werden können (dies gilt für den Schulbau ebenso wie für den Bau bzw. die Sanierung von Landesliegenschaften, Hochschulen und Krankenhäusern).

Auch ein zukünftiges Bädersanierungs- und in einer wachsenden Stadt notwendiges Neubauprogramm der Berliner Bäderbetriebe unterliegt dem Regime der Schuldenbremse.

Kreditaufnahmen für Rekommunalisierungen und Entschädigungszahlungen bei Enteignungsverfahren werden deutlich erschwert und verteuert.

Die Einbeziehung der Extrahaushalte unterwirft auch alle Hochschulen dem Landesregime der Schuldenbremse. Hochschulausbauinvestitionen wären selbst dann Teil der Schuldenbremse, wenn das Land Zins und Tilgung übernähme.

Von Befürwortern dieser Verschärfung der grundgesetzlichen Schuldenbremse wird eingewandt, dass diese dysfunktionale Norm jederzeit einfachgesetzlich korrigiert werden kann und die meisten Extrahaushalte ebenso wie die Hochschulen keine Kreditermächtigung hätten. Diese Argumentation verkennt die Beharrungskraft einmal eingeführter Gesetze. Im konkreten Fall würde jede spätere Abschwächung als schwerwiegende Abkehr von der Schuldenbremse und Beendigung seriöser Haushaltspolitik gebrandmarkt werden und wäre so selbst bei fortschrittlichen Mehrheiten nur sehr schwer durchsetzbar.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass Kredite einer neu zu gründenden Gesellschaft zum Ankauf von Grundstücken und Häusern nach den Vorstellungen des Senats nicht dem Regime der Schuldenbremse unterworfen werden sollen. Investitionen in den Ankauf (als Ergänzung zum öffentlichen Neubau) sind langfristig – insbesondere in Anbetracht des langfristig niedrigen Zinsniveaus – eine sinnvolle und auch wirtschaftlich darstellbare Strategie. Die Stadt Wien betreibt diese Politik der Schaffung öffentlichen Wohnraums mit großem Erfolg seit über 100 Jahren.

Da jeder Konjunkturaufschwung einmal zu Ende geht, muss man leider davon ausgehen, dass schon in wenigen Jahren die bisherigen Investitionsrücklagen des Landes aufgebraucht sein werden. Der Senatsentwurf der Landesschuldenbremse wird daher bei Umsetzung langfristig zu unzureichenden Investitionen und einem Qualitätsverlust der öffentlichen Daseinsvorsorge führen. Das ist Wasser auf den Mühlen ressentimentgetriebener Kräfte und untergräbt die strategische Mehrheitsfähigkeit für fortschrittliche Politik.

Wir appellieren daher an die Fraktionen im Abgeordnetenhaus:

Setzen Sie sich dafür ein, dass die Berliner Schuldenbremse keine Investitionsbremse wird! Beziehen Sie die Kreditaufnahme von Extrahaushalten nicht in die Landesschuldenbremse ein. Gerade Öffentlich-Öffentliche Partnerschaften (ÖÖP) können bei einer Kreditaufnahme durch Extrahaushalte (in der Rechtsform einer AöR) besonders wirtschaftlich umgesetzt werden. Ermöglichen Sie so Zukunftsinvestitionen im Land Berlin!

Allerdings sollte öffentliche Kreditaufnahme im Rahmen von Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) in die restriktiven Regelungen der Schuldenbremse einbezogen werden. Die grundgesetzliche Schuldenbremse schafft Anreize, staatliche Kreditaufnahme in ÖPP zu verlagern, die meistens unwirtschaftlich sind. Hier sind restriktive Regelungen wichtig und notwendig.

zu den Autor*innen:

Dr. Dierk Hirschel, Bereichsleiter für Wirtschaftspolitik, Europa und Internationales der Gewerkschaft ver.di.

Prof. Dr. Jan Priewe, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin) von 1993 bis 2014. Seitdem im Ruhestand, Mitglied des Forschungs-clusters „Money, Trade, Finance and Development“ an der HTW; Senior Research Fellow am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler­Stiftung.

Dr. Sabine Reiner, Ressortkoordinatorin bei ver.di Ressort 12; stellv. Vorstandsvorsitzende der

Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Prof. Dr. Thomas Sauer, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena; Mitglied von attac, Bündnis 90 / Die Grünen und ver.di. Lebt in Berlin.

Dr. Axel Troost, Senior Fellow für Wirtschaftspolitik beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung; Vorstandssprecher des ISM – Institut Solidarische Moderne; 2005 bis 2017 finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE.

Harald Wolf, Mitglied des Abgeordnetenhaus von Berlin; seit Juni 2018 Bundesschatzmeister der Partei DIE LINKE; von 2002 bis 2011 Bürgermeister von Berlin (d. h. einer der beiden Stellvertreter des Regierenden Bürgermeisters) und Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen

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