Hans-Jürgen Urban in der Frankfurter Rundschau: Weniger Kapitalismus, mehr Demokratie

Der Kapitalismus kann ohne Wachstum nicht sein. So einfach ist das. Weil das aber so einfach ist, ist alles Weitere ziemlich schwierig. Der Beitrag von Hansi ist deshalb der richtige zur richtigen Zeit, weil es grade sehr viele kleinbourgeoise Phantastereien einer Postwachstumsgesellschaft gibt, die hochwissenschaftlich daherkommen, aber bei Licht betrachtet einfach nur naiv sind.
Stefan Dreher
Hans-Jürgen Urban.

Weder Sehnsucht nach Wachstum, noch Wachstumsverzicht führen aus der Krise. Es geht um ein angemessenes Wachstum.

Der Gastbeitrag.

Eine der längsten Wachstumsphasen der Nachkriegszeit läuft aus. Angst vor der Krise geht um. Dafür gibt es Gründe. Wachstum ist die vielleicht wichtigste Dynamik unseres Wirtschaftsmodells. Staatseinnahmen, Arbeitsmärkte und Masseneinkommen hängen am Wachstum. Bleibt es aus, ist der Katzenjammer groß.

Das hat systemische Ursachen. Die Jagd nach Mehrwert ist der zentrale Antrieb einer privatkapitalistischen Wirtschaft. Erlahmt sie, aus welchen Gründen auch immer, verliert das System an Stabilität. Der Kapitalismus wächst oder er ist in der Krise. Dazwischen gibt es nichts.

Auch die Gewerkschaften sind traditionell Wachstumsfans. Es gehört zu ihrem Kerngeschäft, wirtschaftliche Zuwächse in höhere Einkommen, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbe

itsbedingungen umzuwandeln. Die Erfolge dieser Politik sind bis heute nach Geschlecht, ethnischer Herkunft und Weltregionen ungleich verteilt.

Für die Bevölkerungsmehrheit in den kapitalistischen Metropolen bedeuten sie gleichwohl einen historisch einmaligen Lebensstandard. Die Angst und Sorge, diesen zu verlieren, lässt viele für rassistische und chauvinistische Erzählungen empfänglich werden.

Doch dieses Modell stößt an Grenzen. Wachstum im neoliberalen Kapitalismus wird repulsiv und bedeutet keineswegs mehr Wohlstand für alle. Es befördert gesellschaftliche Spaltung, indem es die Vermögen der Reichen mehrt und zugleich immer mehr Menschen in prekäre Lebenslagen abdrängt. Und es nimmt die Natur in einem Maße in Anspruch, das ihre Regenerationsfähigkeit überfordert. Die Klimakrise lässt grüßen.

Stimmt diese Diagnose, führen die traditionellen Strategien zur Ankurbelung des Wachstu

ms nicht aus der Krise, sondern weiter hinein. Diese Erkenntnis stellt den rationalen Kern diverser Postwachstums-Strategien dar, die in linken politischen und akademischen Milieus an Zuspruch gewinnen.

Auf der Basis einer prinzipiellen Wachstumskritik werden etwa der radikale Rückbau tragender Wirtschaftssektoren (wie der Stahl- und Automobilindustrie), ein genereller Konsumverzicht und eine Kultur der Bescheidenheit gefordert. Fragen von Erwerbsarbeit, Produktion und Verteilung fristen hingegen ein Schattendasein.

Doch so sympathisch diese Wachstumsablehnung auf den ersten Blick sein mag, sie übersieht, dass die Gegenwartsgesellschaften nicht nur Überfluss-, sondern auch Defizitgesellschaften sind. Und diese Defizite liegen etwa in der sozialen Sicherheit, im Gesundheits- und Sorgebereich, im Bildungs- und Kultursektor und bei der Mobilität von Menschen und Gütern.

Sie zu beheben erfordert weiterhin die Produktion von Gütern wie Zügen, Bussen und Autos; und von sozialen Diensten wie Pflege. Und es erfordert wirtschaftliche Wertschöpfung, die in öffentliche Investitionen in öffentliche Güter umverteilt werden muss.

Weder traditionelle Wachstumssehnsucht, noch pauschaler Wachstumsverzicht führen weiter. Zielführend wäre eine Wirtschaft, die nicht unter einem profitgetriebenen Wachstumszwang ächzt, sondern die wächst, wo sie wachsen soll und auf Wachstum verzichtet, wo es die Gesellschaft spaltet oder die Natur überfordert.

Ein solches, gesellschafts- und naturverträgliches Wachstum unterschiede sich grundlegend vom bisherigen. Es fiele wohl flacher aus, da es nicht Wachstum auf Teufel komm raus förderte, sondern nur dort, wo gesellschaftlicher Nutzen zu erwarten ist; es wäre nachhaltiger, da es die Grenzen der Natur als Grenzen des Wachstums akzeptierte; und es müsste sich gerechter vollziehen, indem es die Verliererinnen und Verlierer des Strukturwandels nicht in Arbeitslosigkeit oder Armut abdrängt, sondern ihnen mit gesellschaftlichen Ressourcen neue Perspektiven eröffnet.

Doch solche Ansprüche überfordern den Markt. Er stellt eine Spielanordnung dar, in der private Akteure nach maximalem Profit oder Nutzen jagen und anfallende Kosten auf die Gesellschaft oder die Natur abgewälzt werden können. Und in der wirtschaftliche Macht in politische Vetomacht umschlägt.

Sollen gesellschaftliche Gebrauchswerte, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu Zielmarken werden, sind andere Spielregeln unverzichtbar. Das erfordert politische Eingriffe in die Märkte, bis in die Unternehmensentscheidungen hinein. Und es erfordert den Ausbau öffentlicher Güter und Infrastruktur.

Ein zukunftstaugliches Wirtschaftsmodell muss nicht nur langsamer, nachhaltiger und gerechter, es muss vor allem demokratischer wachsen. Weniger Kapitalismus und mehr Demokratie sind angesagt.

Hans-Jürgen Urban ist Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall.