FR-Interview mit Bernd Riexinger: Die sozialistische Arbeiterbewegung hatte immer eine internationale Perspektive.

Linken-Vorsitzender Bernd Riexinger „Sichtbare soziale Verwüstung“

Woher kommt der Erfolg der AfD? Der Linken-Vorsitzende Bernd Riexinger spricht im Interview mit der FR über Klassenkampf von oben, die Groko und Politikverdrossenheit.

Die Linke
Bernd Riexinger sieht einen Klassenkampf von oben. Foto: imago

Herr Riexinger, was halten Sie von der Causa Maaßen? Inwiefern stärkt sie Politikverdrossenheit?
Offenbar hat Maaßen ein sehr freundschaftliches Verhältnis zur AfD und wird von Horst Seehofer geschützt. Angela Merkel und Andrea Nahles sind entweder begriffsstutzig oder haben keinerlei Gespür für die Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger. Man muss sich das einmal vor Augen führen: jeder Beschäftigte, der heimlich die Konkurrenz mit Informationen versorgt, die Chefs belügt und der Firma einen schweren Imageschaden zufügt, würde hochkant rausgeschmissen. Maaßen hingegen wird Abteilungsleiter im Innenministerium.

Warum greift Kanzlerin Merkel nicht ein?
Die Chuzpe von Seehofer macht ja gerade die Schwäche der Bundeskanzlerin deutlich. Die Causa Maaßen ist eine totale Blamage für Angela Merkel und die SPD. Unterm Strich bleibt bei den Menschen hängen: Erst dauert es ein halbes Jahr, bis überhaupt eine Regierung zustande kommt, dann dauert es kaum ein halbes Jahr, bis sie sich wieder zerlegt. Das stärkt natürlich nicht das Vertrauen in die Regierung. Als stinknormaler Bürger würde ich mich fragen, warum sich die SPD mehr mit CDU/CSU über einen Herrn Maaßen streitet als darüber, wie meine Rente in Zukunft gesichert wird oder bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird.

Ist es nicht so, dass davon die AfD am meisten profitiert?
Nicht zwangsläufig. Das Zeitalter der Großen Koalitionen ist vorbei, das zeigt die Erosion der CDU und der SPD. Die Stärke der AfD liegt in der Schwäche der Regierungspolitik. Hinzu kommt, dass zahlreiche Forderungen von Gauland und Co seit 2015 von der GroKo übernommen wurden. So bekämpft man die extreme Rechte nicht, im Gegenteil. Die AfD hat inhaltlich nichts zu bieten, außer einer Blut-und-Boden-Sozialpolitik und viel Demagogie. Kämen Weidel und Gauland jemals an die Macht, würden weder die Renten steigen, noch gäbe es genügend Fachkräfte oder mehr Kita-Plätze. Deshalb ist der Erfolg der AfD davon abhängig, wie sich die anderen Parteien verhalten. Die SPD steht vor der Entscheidung, sich weiter in der Regierung von Seehofer zum Horst machen zu lassen oder endlich eine sozialdemokratische Politik zu vertreten. Die Linke steht stabil bei zehn Prozent. Gäbe es die Aussicht auf linke, also soziale und fortschrittliche Mehrheiten, würde die AfD ihren Protest-Bonus verlieren und absacken.

Was wollen Sie der Politikverdrossenheit entgegensetzen? In Ihrem Buch „Neue Klassenpolitik – Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen“ schreiben Sie von einer Solidarität ohne Grenzen. Ist es das, was der Wähler hören will?
Die Ergebnisse des neuen Integrationsbarometers zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung Zuwanderung als Bereicherung erlebt. Damit stehen deutlich mehr Menschen näher bei uns als bei Seehofer oder der AfD. Ich beschreibe in meinem Buch, dass die ca. 18 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht als Konkurrenten oder Belastung betrachtet werden können. Vielmehr haben sie erheblich zu unserem Wohlstand beigetragen.

Können Sie das konkretisieren?
Ich lag kürzlich im Krankenhaus. Ohne Migrant*innen hätten die Patientinnen und Patienten kein Essen bekommen, die Betten würden nicht bezogen, die Räume nicht gereinigt und die Hälfte der Physiotherapie wäre auch ausgefallen. Die Linke hat die Frage der Konkurrenz immer mit der Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen, Tarifverträgen für alle und guter Sozialpolitik beantwortet, niemals mit Ausgrenzung. Außerdem haben wir immer zusammen mit den ausländischen Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne gekämpft.

Meinen Sie das mit Solidarität ohne Grenzen?
Die sozialistische Arbeiterbewegung hatte immer eine internationale Perspektive. Die Ziele der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – haben universellen Anspruch. Niemals sollten sie nur für einen ausgewählten Teil der Menschheit gelten, sondern immer für alle gleichermaßen. „Solidarität ohne Grenzen“ ist der Titel eines Kapitels in meinem Buch und bezieht sich auch darauf, dass im Zeitalter des globalen Neoliberalismus die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit mehr und mehr eine internationale Dimension erhalten.

Zum Beispiel?
Aktuell findet bei der Billig-Fluglinie Ryanair ein europäischer Arbeitskampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen statt. Die Mehrzahl der Stewardessen und Stewards kommt aus Polen, Spanien, Portugal, viele von ihnen haben studiert. Bei der Streik-Kundgebung, zu der ich vergangene Woche in Berlin eingeladen war, hat mir besonders ihre Solidarität imponiert. Die jungen Leute wissen genau, dass sie gegen einen Konzern wie Ryanair nur dann eine Chance haben, wenn sie sich nicht spalten lassen aufgrund von Hautfarbe, Nationalität oder Geschlecht. Ähnliches passiert beim Handelskonzern Amazon. Die Kooperation der Belegschaften, die sich in den USA, in Polen, Spanien, Deutschland und vielen anderen Ländern gegen Hungerlöhne und Totalüberwachung am Arbeitsplatz wehren, wird enger. Tatsache ist, dass gegen global operierende Konzerne zukünftig Arbeitskämpfe international geführt werden müssen, weil andernfalls die Belegschaften in den einzelnen Ländern gegeneinander ausgespielt werden.

Internationaler Arbeitskampf, ein Rezept gegen Politikverdrossenheit?
Politikverdrossenheit entsteht meistens dann, wenn die gewählten Parteien ihre Wahlversprechen brechen und nicht bereit sind, eine Politik für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Mehrheit zu machen. Der Milliardär Warren Buffett hat recht, wenn er sagt: „Es herrscht Klassenkampf und meine Klasse gewinnt.“ Wir erleben einen Klassenkampf von Oben, insbesondere in den letzten 40 Jahren, mit dem Ergebnis eines neoliberalen Umbaus, der sichtbar soziale Verwüstung hinterlassen hat. Stagnierende Löhne, Armut und Kinderarmut, vernachlässigte öffentliche Infrastruktur, Pflegenotstand, Armutsrenten sind nur einige Stichworte dafür. Mein Konzept einer verbindenden Klassenpolitik zielt darauf ab, dass Menschen mit unterschiedlichen Berufen, Biografien, prekär und nicht prekär Beschäftigte, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe zueinanderfinden und gemeinsam ihre Interessen vertreten. Deshalb der Titel des Buchs: Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen.

Wie sieht für Sie eine linke Flüchtlingspolitik aus?
In einer Zeit, in der gegen Flüchtlinge, Ausländer und Muslime gehetzt wird, in der das Asylrecht mit Füßen getreten wird, muss es eine Partei geben, die nicht tatenlos zuschaut, wie Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, Mauern um Europa gebaut werden, und Geflüchtete in die Länder abgeschoben werden, aus denen sie fliehen mussten. Unsere Flüchtlingspolitik umfasst im Kern drei Punkte: Erstens wollen wir Fluchtursachen bekämpfen. Das wollen alle, aber niemand tut es. Dabei kann man sofort etwas für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung tun, zum Beispiel unfaire Agrarexporte stoppen. Man kann auch sofort die Waffenexporte stoppen, und endlich damit aufhören, Tod und Elend zu exportieren. Stattdessen genehmigt die GroKo Waffenexporte nach Saudi-Arabien.

Zweitens streiten wir für eine soziale Offensive für alle. Es ist das ständige Mantra der Regierenden und der Rechten: Die unten sollen sich um die Brosamen streiten, damit sie den Blick nicht nach oben richten, dorthin, wo die eigentlichen Verursacher sind. Mit unserem Steuerkonzept könnten Milliarden dafür verwendet werden, Geflüchteten zu helfen und gleichzeitig die drängenden sozialen Probleme zu lösen. Es ist eine Lüge, dass es nur für die einheimische Bevölkerung oder für die Geflüchteten reicht.

Drittens: Wer vor Krieg, Verfolgung und Armut zu uns flieht, dem müssen wir helfen. Jeder Mensch, der an den Außengrenzen Europas stirbt oder im Mittelmeer ertrinkt, ist ein schrecklicher Skandal, mit dem wir uns nicht abfinden. Wir brauchen sichere, legale Fluchtwege und offene Grenzen.

In der Linken sind nicht alle Ihrer Meinung. Ihnen wird beispielsweise vorgeworfen, die Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu ignorieren. Wie definieren Sie den Begriff der Arbeiterklasse? Sie sprechen von einer verbindenden Klassenpolitik.
Dieser Vorwurf kann mich wirklich nur amüsieren. Mein ganzes politisches Leben begleite ich die Lohnabhängigen und ihre Kämpfe, deren Interessen habe ich als Parteivorsitzender in den Vordergrund gestellt. Alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und keine unternehmerische Funktion ausüben, sind Teil der Klasse der Lohnabhängigen oder – klassisch gesprochen – der Arbeiter*innenklasse. Diese ist jedoch völlig anders zusammengesetzt als noch vor 30 Jahren. Sie ist weiblicher und migrantischer geworden, sie ist deutlich häufiger im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig als früher, und immer mehr haben Abitur oder studiert.

Was folgt daraus?
Eine verbindende Klassenpolitik meint eine Politik, die die Pflegekraft, den Leiharbeiter, die Verkäuferin, die Studentin und die Rentnerin ebenso wichtig nimmt wie diejenigen, die für Bleiberecht und gleiche Rechte von Geflüchteten kämpfen. Damit Menschen, die sich gegen steigende Mieten, für Klimaschutz und Bürgerrechte engagieren, ihre Kräfte stärker bündeln und wir den Kampf gegen rechts mit der sozialen Frage und sozial-ökologischen Alternativen verbinden.

Stichwort Ostdeutschland. Hier tendieren immer mehr Menschen zur AfD. Sind das in Ihren Augen alles sogenannte „Abgehängte“, von denen Politiker so gerne sprechen?
Es ist verkürzt, wenn jetzt gesagt wird, dass Ostdeutsche tendenziell rechtsradikal ticken. In Baden-Württemberg, wo ich herkomme, hat die AfD aus dem Stand 15% bei den Landtagswahlen erreicht. Ich teile auch die Logik nicht, dass wer keinen Job hat, automatisch bei „Pegida“ mitmarschiert. Häufig sind es Menschen aus der Mittelschicht, 51 Prozent der AfD Wähler*innen haben einen akademischen Hintergrund. Es gibt keine Entschuldigung für Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, auch nicht das eigene Elend. Fest steht aber: Der Aufstieg der Rechten und die neoliberale Politik der vergangenen drei Jahrzehnte sind zwei Seiten derselben Medaille. Wo Menschen im Wettbewerb gegeneinander ausgespielt werden und Lebenssicherheit auf der Strecke bleibt, wird immer nach Sündenböcken gesucht. De facto besitzen die Reichen, die 1 Prozent der Bevölkerung in diesem Land ausmachen, über 30 Prozent des gesamten Vermögens. Die untere Hälfte besitzt zusammen gerade mal 1 Prozent. Wir wollen, dass die Lohnabhängigen und Erwerbslosen ihre Interessen gegen die Klasse der Kapitalbesitzer durchsetzen – nicht gegen Geflüchtete und Migranten.

Sie gelten als Kritiker der Sammelbewegung #Aufstehen. Wieso die Abwehrhaltung?
Mir ist nicht klar, was der zweite und dritte Schritt der Sammelbewegung werden soll. Die Politik der Bundesregierung, wie auch der anderen Parteien ändern wir nicht durch Klicks, sondern durch tatsächliche Gegenwehr. Die findet gerade statt. Zehntausende protestieren gegen Rassismus und gegen rechts, für bezahlbare Wohnungen oder kämpfen gegen den Pflegenotstand. Die Linke ist dort aktiv dabei, in Bündnissen und Initiativen. Das ist unser Ansatz und den werden wir stärken.

Interview: Katja Thorwarth