Pilotenstreik – Skandalurteil!
Autor: Nikita Karavaev
Mitte September traf das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen eine falsche, aber sich im Rahmen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bewegende Entscheidung:
In mehreren jüngeren Entscheidungen zum Streik – darunter die erstmalige Zulassung eines Solidaritätsstreiks im Jahr 2007 – hat sich das BAG auf die Europäische Sozialcharta (ESC) bezogen. Nach Art. 6 Nr. 4 ESC gewährleisten die Unterzeichnerstaaten das Recht der Arbeitnehmer auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts. Die Regelung ist so auszulegen, wie die Mehrheit der unterzeichnenden Staaten sie versteht. Danach ist es so, dass weder die Streikziele noch die Streikorganisationsformen auf die Durchsetzung von Tarifverträgen beschränkt sind. Entsprechend hat auch das Ministerkomitee des Europarates der Bundesrepublik empfohlen, die sich aus der Tarifakzessorietät ergebende Beschränkung des Streikrechts aufzugeben.Abgesehen davon beruht die überkommene Rechtsprechung zur Tarifakzessorietät auf einer falschen Auslegung des Grundgesetzes (GG). Zwar ist im GG das Streikrecht nicht explizit enthalten. Dafür aber die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3. Und zwar – im Gegensatz zu einigen anderen Grundrechten – vorbehaltlos, notstandsfest und unmittelbar drittwirkend. Es ist also ein starkes Grundrecht und beinhaltet unumstritten die Betätigungsfreiheit der Koalitionen, also auch der Gewerkschaften, zur Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder. Das beinhaltet die Tarifautonomie und natürlich auch den Streik. Der Streik ist nicht bloß ein Hilfsmittel der Tarifautonomie, wie es frühere Bundesarbeitsrichter sahen und woraus sie die Tarifakzessorietät des Streiks ableiteten. Arbeitnehmer dürfen nach Art. 9 Abs. 3 zur Wahrung und Förderung ihrer Arbeitsbedingungen streiken, auch wenn es nicht um unmittelbar tariflich regelbare Sachverhalte geht, die aber dennoch Auswirkungen auf ihrer Arbeitsbedingungen haben. Diese Auslegung steht sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck des Grundrechts näher und entspricht darüber hinaus auch europäischen Standards, der ESC und dem insoweit gleichlautenden Art. 28 EU-Grundrechtecharta. Letzteres hat insofern auch Bedeutung, als dass das GG völkerrechtsfreundlich und europarechtskonform auszulegen ist. Dass das frühe BAG Art. 9 Abs. 3 GG anders verstand, lag auch an der damals noch nachwirkenden „vorgrundgesetzlichen“ Sichtweise, nach der ein Streik ein vertrags- und rechtswidriges Verhalten sei, das nur ausnahmsweise gestattet werde. Diese Sichtweise muss heute aber endgültig ad acta gelegt werden. Streik gehört selbstverständlich zum demokratischen Gemeinwesen und das Streikrecht zu den zivilisatorischen Errungenschaften unserer Gesellschaft.Nun ändert das Bundesarbeitsgericht eine ständige Rechtsprechung nicht über Nacht und es muss auch erstmal ein passender Fall kommen. Die Tendenz des BAG geht aber in den letzten Jahren dahin, die angesprochenen Argumente anzuerkennen. Daher wäre es begrüßenswert gewesen, wenn hier in höchster Instanz weiterverhandelt worden wäre. Das Urteil des Hessischen LAG wäre wahrscheinlich kassiert worden. Und das zu Recht!
Zum Schluss sei noch gesagt: Auch die jüngsten – teils jahrelangen – Tarifauseinandersetzungen bei der Post und jetzt der Lufthansa zeigen, dass die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in wirtschaftlichen Angelegenheiten und bei sie massiv betreffenden Betriebsänderungen ein ganz zentrales Thema ist, das durch die Deregulierung der Märkte in den vergangenen 30 Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat und durch die jetzt vielfach diskutierte Digitalisierung der Arbeitswelt noch mehr an Bedeutung gewinnen wird. Hier hat der Gesetzgeber viel liegen gelassen, was Arbeitnehmer und ihre Vertreter geschwächt und damit zur schlechten Lohnentwicklung hierzulande und damit übrigens auch indirekt zur Eurokrise beigetragen hat. Der Gesetzgeber muss hier nachsteuern und endlich Mitbestimmung auf gleicher Augenhöhe auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten sicherstellen. Das lässt sich auch verfassungskonform ausgestalten, wenn der politische Wille da ist.